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Lesepaten schreiben ...

An einem Freitag im Juli, 17.30Uhr in der Fußgängerzone

Wir werden hier immer wieder Neue Beiträge unserer Lesepaten Veröffentlichen und wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen.

„Meine Güte, tun mir die Beine weh, Gott sei Dank, dass gleich Feierabend ist“. Genervt wirft die Verkäuferin einen Blick auf ihre hohen Absätze, dann auf Elke. „Dass Du in den flachen Tretern laufen kannst, ich käme mir vor wie Charlie Chaplin“. Ding-dong – unterbricht die Ladenklingel die Unterhaltung. „Oh nein“, raunt Ulla ihrer Kollegin zu, „die Meier schon wieder, die kann sich doch nie entscheiden...“. Trotzdem setzt sie ihr süßes Plastiklächeln auf, stolziert der Kundin entgegen und mit einem freundlichen „Kann ich Ihnen helfen oder möchten Sie mal durchschauen?“ baut sie sich vor der kleinen untersetzten Frau auf. „Ja, eigentlich suche ich etwas ganz Bestimmtes. Eine Bluse, die zu allem passt, Sie wissen schon, zum Kostüm, zum Hosenanzug. Sie soll nicht zu elegant, nicht zu sportlich sein, soll nach was aussehen, aber bitte nicht zu teuer.“ Ulla dreht den Ständer mit den Blusen, sucht die richtige Größe heraus und hängt eine Auswahl vor die Stange. „Nein, die ist zu hell; nein, um Gottes Willen, die ist zu dunkel“. Ulla bewahrt die Ruhe. Freundlich sein, auch wenn es schwer fällt.... denkt sie. Heimlich wirft sie einen Blick auf die Uhr. Es ist fünf Minuten vor sechs. Die Kundin hat es bemerkt. „Wenn Sie mir nichts verkaufen möchten, müssen Sie das nur sagen, ich kann das Geld auch woanders ausgeben“, bemerkt sie in schnippischem Ton. Ulla gibt sich einen Ruck. Nein, keinen Ärger mehr kurz vor Schluss. „Wie wäre es mit dieser?“ fragt sie und präsentiert ein brandaktuelles Modell in einem quietsch-grellen Orange. „Um Himmelswillen“, stöhnt Frau Meier, „die Farbe zieht mir ja das Blut aus dem Gesicht, nein, die macht mich zu blass, die brauche ich erst gar nicht anzuprobieren.

Ich glaube, ich habe heute kein Glück“, seufzt sie und hängt das modische Teil wieder zurück. Erleichtert geht Ulla zur Kasse. Gott sei Dank! Abgewimmelt. Zwei Minuten vor sechs. „Wenn ich mich jetzt beeile, kann ich noch schnell frische Brötchen und etwas Aufschnitt besorgen“, flüstert sie Elke zu, die bereits die Tageseinnahmen addiert. Doch die Aussicht auf einen pünktlichen Feierabend wird schlagartig getrübt. „Oh, das ist ja toll“. Entzückt hält Frau Meier den Bügel mit dem reduzierten Zweiteiler hoch. „Der ist doch schöön und soo preiswert“, freut sie sich. „Die Bluse wird passen, aber die Hose ist viel zu groß für Sie, es ist Größe 46, darum hängt der Anzug auch noch hier“, versucht Ulla ihr die Entdeckung auszureden. „Ach, vielleicht kann man das ändern, ich probiere ihn einfach an.“ Frau Meier hat Ort und Zeit vergessen. Flugs in die Umkleidekabine, und schon nach wenigen Minuten steht sie strahlend vor dem großen Spiegel. „Die Bluse ist einfach toll, genau die, die ich gesucht habe“. Ihre Stimme überschlägt sich fast. „Und die Hose?“, fragt Ulla vorsichtig. Mit beiden Händen hält Frau Meier die überflüssige Stoffmenge fest. „Kein Problem. Stecken Sie mir die doch einfach mal ab!“ Ulla holt die Stecknadeln aus der Schublade. Schade, am liebsten hätte sie die Kundin jetzt in die dicken Oberschenkel gepiekst, so ganz schnell und unauffällig. Unverschämtheit. „Ich gehe, tschüss, bis morgen“, ruft Elke, die bereits an der Tür ist. Ulla wirft einen sehnsüchtigen Blick hinterher...... Um 18.35 Uhr hat sich Frau Meier entschieden: „Ich bin kein Typ für schnelle Entschlüsse, vielleicht schaue ich morgen noch einmal herein.“ Ulla verdreht die Augen: „Keine Brötchen, keinen Aufschnitt und noch nicht einmal die Provision......“.

Angelika  Knöpker

                                                                                                         

Foto: A.Knöpker